Jenseits des politischen Antifaschismus


Jenseits des politischen Antifaschismus

Das Banale vorweg: Die brutale Gewalt von faschistischen Gruppen bedroht und tötet Menschen, unabhängig davon, wie isoliert oder aufstrebend diese Gruppen sind. So lange das so ist, braucht es einen militanten Antifaschismus, der sie daran hindert. Umso tragischer, dass die staatliche Repression in der BRD weitgehend ungehindert antifaschistische Strukturen in den letzten Jahren angreifen und teils zerschlagen konnte. Über die bloße Deklaration von Solidarität hinaus, gab es jedenfalls wenig Reaktionen, erst Recht keine aktionistische oder strategische Bezugnahme auf militanten Antifaschismus. Die monatelange Tag-X-Mobilisierung zur Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Prozess geriet zu einem völligen Fiasko, worüber leider auch die kleineren Auseinandersetzungen an den Abenden jenes Wochenendes nicht hinwegtäuschen können. Noch bevor eine Reflektion über die eigene Handlungsunfähigkeit einsetzen konnte, gelang mal wieder der mühelose Switch von der angekündigten Militanz in die Opfer-Pose anlässlich des Bullenkessels.

Der Kontrast zwischen der Einsamkeit der verhafteten und untergetauchten Antifas mit den „Wir sind mehr“-Massenprotesten könnte größer nicht sein. Auch wenn letztere in erster Linie einem viral gegangenen liberal-bürgerlichen Unwohlsein mit dem Aufstieg der AfD zu geschuldet sind, war es auffällig, wie sich als linksradikal und antifaschistisch verstehende Gruppen mühelos und ohne größere Diskussionen in diese Mobilisierung integrieren konnten. Schlussendlich entspricht das ganz breite Bündnis bis ins Regierungslager, was hier spontan zusammengekommen ist, der strategischen Wunschvorstellung der real existierenden antifaschistischen Bewegung seit der Selbstauflösung der alten Antifa-Gruppen vor gut einem Jahrzehnt. Diese Strategie konnte bekanntlich weder den Aufstieg der AfD verhindern noch den rassistischen Rechtsruck, der ohne deren Mitwirkung von den bürgerlichen Parteien vollzogen wurde. Selbst in den Hochzeiten der Anti-AfD-Proteste Anfang 2024 konnten die rassistischen Gesetzesverschärfungen durchgezogen werden, ohne dass es den im Schulterschluss vereinten Regierungs- oder Bewegungslinken die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. So wird unbeeindruckt das Pferd der breiten Bündnismobilisierungen weiter totgeritten. Zu sehen war das auch bei der zivil-halbgehorsamen Blockade des AfD-Parteitags in Essen, wobei die Mobilisierungsphrasen bis in den Wortlaut hinein den zehn Jahre alten Bemühungen gegen die AfD-Parteitage in Köln und Hannover entsprachen – als hätte Facebook jemanden an den Jahrestag seines Posts zum Demo-Selfie erinnert. Konsequenterweise galt das auch für den Ablauf der Proteste. Das Protestbündnis Wiedersetzen lobte sich im Nachhinein mit den Worten: „Wir haben gesagt, was wir tun, und tun was wir sagen.“ Aktionskonsense definieren im Vorfeld den Ablauf von Protesten, bei denen nichts Unvorhergesehenes passieren soll. Das Kontrollbedürfnis der Bewegungsmanager*innen folgt den gleichen Logiken wie die sich entwickelnde prädiktive Polizeiarbeit. Nichts soll die Inszenzierung des Spektakels stören, das im Nachhinein immer als Erfolg verkauft wird, durch Pressearbeit nach außen und pathetische Beschwörung nach innen. Das Spektakel selbst will wiederum auch nichts stören, außer die AfD ein bisschen. Aber sicherlich nicht den rassistischen Normalzustand, der auch auf den Kundgebungen in Essen durch Figuren wie den CDU-Oberbürgermeister und Wirtschaftsvertreter repräsentiert wird, die die AfD vor allem als wirtschaftliches Risiko für den Standort sehen.

Keine GEAS-Reform mit Asylverfahren in Lagern an den EU-Außengrenzen, kein „Rückführungsverbesserungsgesetz“ das Menschen zugunsten des Ziels reibungsloser Massenabschiebungen entrechtet, keine Bezahlkarte die ihnen das Leben bis zur Selbstaufgabe erschweren soll, ändert etwas daran, dass diejenigen, die diese Gesetze beschließen und umsetzen, bei der nächsten Sitzblockade gegen die AfD wieder hochwillkommen sind. So werden auch weiterhin diejenigen, die keine Abschiebungen wollen, mit denen zusammen auf die Straße gehen, die mehr Abschiebungen durchführen, um gegen diejenigen zu protestieren, die noch mehr davon fordern. Wie absurd diese Situation auch sein mag, sie wird sich weiterhin stabilisieren, weil sie alle an ihr beteiligten Akteure stabilisiert.

The good, the bad, and the kleinere Übel

Die AfD kann sich weiterhin als Underdog in einem Kulturkampf gegen das allmächtige Bündnis von Zivilgesellschaft und vermeintlich nach links rückender Regierung inszenieren. Dies fällt ihr umso leichter in der auch international zu beobachtenden Konstellation eines sogenannten „progressiven Neoliberalismus“. Das Adressieren von Forderungen kultureller Anerkennung, die Übernahme von sprachlichen Codes aus linken und feministischen Bewegungen sowie symbolische Zugeständnisse sind Regierungstechniken, um sich als fortschrittlich darzustellen. Und der Bewegungslinken fällt nichts anderes ein, als sich zur Hüterin dieser Regierungstechniken zu machen.

Nichtsdestotrotz hat diese Konstellation unter den Verschärfungen in der Asyl- und Migrationspolitik der letzten Jahre gelitten und mit ihr die Fassade von gesellschaftlicher Progressivität, Moral und Demokratie, die insbesondere für die Grünen zentraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses ist. Eine fortschrittliche aktive Zivilgesellschaft spielt darin eine wichtige Rolle als Stütze der politischen Hegemonie und Vermittlerin der Regierungspolitik in die Bevölkerung. Die Krise der Zivilgesellschaft hängt damit zusammen, dass die einst mit ihr verbündeten Grünen nun die Politik machen, gegen die man früher protestiert hat. Zugleich wird sie gerade für das zukünftige Projekt einer ökologischen Modernisierung des Kapitalismus um so dringender gebraucht. Die Mobilisierungen gegen die AfD bringen Regierung und Zivilgesellschaft wieder zusammen auf der Basis dessen, was den progressiven Neoliberalismus ausmacht: Ein von jedem Inhalt entleerter symbolischer Antirassismus, der die reale rassistische Politik verschweigt und letztlich legitimiert.

Das Gefühl, sich nach Jahren der Stagnation endlich wieder als Teil einer dynamischen Bewegung zu fühlen, ist zu verlockend, als dass sich der (radikal) linke Teil der Zivilgesellschaft dem entziehen könnte. Es erspart zudem die bittere Reflektion, dass ihre Strategie in Hinblick auf die AfD gescheitert ist, im Hinblick auf den bürgerlichen Rechtsruck aber eine spezifische Funktion erfüllt. Exemplarisch dafür sei ein Zitat des Sprechers eines antifaschistischen Bündnisses im Vorfeld einer der größten Anti-AfD-Demos genannt: „Wir sollten nicht mehr danach suchen, wer welche Fehler und die AfD so stark gemacht hat“. Es gehe jetzt darum, dass die Gesellschaft für ihre Grundüberzeugungen und die Demokratie eintrete. Und zur Mobilisierung gegen den AfD-Parteitag erklärte ein IL-Sprecher: “Wir verteidigen in Essen die Gesellschaft der vielen und ihre feministischen, antirassistischen und klimagerechten Errungenschaften.” Je dunkler die Farben sind, in denen die mögliche Zukunft einer AfD-Regierung gemalt werden, umso heller erscheint die Gegenwart der bestehenden Verhältnisse. Dass die Linke damit nicht nur ihr eigenes Scheitern entschuldigt, sondern auch die Politik der bürgerlichen Regierungen, ist der Preis, den sie für ihre Bündnisfähigkeit zu zahlen bereit ist.

Nie wieder

Sowohl das Interesse an der Schuldbefreiung als auch der unbedingte Wille zur breiten Bündnispolitik hängen zusammen mit einem spezifischen Blick auf Geschichte und Zeit in der Linken. Die AfD erscheint darin als historische Wiederholung der NSDAP. Überall werden Zitate von Bertolt Brecht und Erich Kästner als Mahnung vor dem kommenden Faschismus bemüht. „Nie wieder ist jetzt“ ist vielerorts der zentrale Mobilisierungs-Slogan. „Nie wieder“ sollen Überlieferungen zufolge befreite KZ-Häftlinge bei der Trauerfeier in Buchenwald im April 1945 gerufen haben, dort wo auch der „Schwur von Buchenwald“ entstanden ist, in dem es heißt: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig“. Es sind zuvorderst die in der Vergangenheit gemordeten, um deren Willen gehandelt werden soll, nicht die von der Zukunft bedrohten. Erst die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln (!) kann den Gemordeten Gerechtigkeit zuführen und gleichzeitig das Kontinuum der Geschichte aufsprengen, das die Ursachen des Faschismus produziert hat und seine Wiederholung möglich macht. Die Verteidigung der existierenden Demokratie als kleineres Übel gegen den drohenden Faschismus der AfD drückt ein gänzlich anderes Geschichtsbild aus. Die einzige Möglichkeit einer guten Zukunft liegt in der Auf-Dauer-Stellung der bürgerlichen Gegenwart. „Nie wieder ist jetzt“ – für immer. Die Verewigung einer Gesellschaft, die auf globaler Ausbeutung und Kolonialismus basiert, die immer neue Kriege und Lager produziert, das Leid der in ihr und durch sie Hungernden, Ertrinkenden, Entrechteten, Rassifizierten, erscheint als akzeptabler Preis für die Abwendung der Zukunft.

Die Dreißigerjahre liegen vor uns

Diese Überschrift könnte zu einem aktuellen Feuilleton-Artikel oder Antifa-Flugblatt gehören, sie ist aber der Titel eines Vortragstextes, den der französische Philosoph Gérard Granel 1989 gehalten hat.Granel hielt die darin enthaltene „Provokation“ für derart offensichtlich, dass er sich nicht fürchtete, missverstanden zu werden:

„Ich will natürlich nicht sagen, dass die historischen Phänomene des Faschismus, Nazismus und Stalinismus nur scheinbar verschwunden sind und in Wirklichkeit hinter der Eingangstür der Zukunft darauf lauern, wiederzukehren und uns mit sich zu schleifen. Es geht hier nicht um eine ‚Wiederkehr des Realen‘ – eine Vorstellung, die im Übrigen immer unangebracht ist, wenn man die Geschichte denken will, und erst recht, wenn die infrage stehende historische Dimension die der Zukunft ist. Die Zukunft hat keine Gestalt. Von daher darf sich die Beschäftigung mit ihr auch nie als Versuch verstehen, das, ‚was uns wohl passieren könnte‘, vorherzusagen“.1

Granel geht es um etwas anderes, nämlich sich dem Wesen der Neuzeit zu nähern, über ein Verständnis von Möglichkeit, demzufolge possibilitas (Möglichkeit) das Selbe sei, wie essentia (Wesen). Das Dasein besitzt verschiedene „mögliche Weisen zu sein”. Das Wesen der bürgerlichen Moderne sieht Granel in der Verbindung von Arbeit, Reichtum und Unendlichkeit in Form der entgrenzten Produktion. Einmal durchgesetzt, führt das Prinzip der Profitlogik zu einer Entgrenzung, die jeden Bereich der Welt ihrer Logik unterordnet. Geld muss sich über die Ware zu mehr Geld vermehren, um dies zu erreichen muss es immer neue Felder erschließen und warenförmig machen. Granel spricht von der „zunehmenden Kolonisierung jedes innerweltlichen Bereichs durch die unsere Geschichte (und all unsere Geschichten) antreibende ‚Totalisierung des Unendlichen’“.2 Es kann, über die Sphäre der kommerziellen Produktion hinaus, daher auch in der Politik, Kunst, Bildung oder Religion, keine Wirklichkeit bestehen, die nicht der kommerziellen Logik gehorchen muss.

„Da aber die abstrakte und unendliche Natur dieser Logik, die nunmehr in jeder menschlichen Tätigkeit als deren ‚kommerzielle Seite‘ wirkt, nichts mit den inneren Eigenschaften und wesentlichen Bedürfnissen der verschiedenen soeben aufgezählten Handlungssphären zu tun hat, geschieht das, wovon Aristoteles bereits verstanden hatte, dass es unweigerlich geschieht, wenn man nur einen Tropfen Unendlichkeit dem beimischt, was wesentlich endlich ist: das Verschwinden des Endlichen durch rasende Entgrenzung.“3

In der historischen Situation der Weimarer Republik sieht Granel ein besonders deutliches Totalitätsbedürfnis, das aus zwei Bewegungen entsteht. Erstens die Bewegung der Totalität der Produktion, die Intensivierung der Verausgabung der Arbeitskraft, die nachholende fordistische Modernisierung, die im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien und den USA nicht auf eine vermittelnde Regulierung traf, die es der Arbeiterklasse erlaubt hätte, „eine so rapide Beschleunigung der unendlichen Produktion gleichzeitig zu bekämpfen und zu verarbeiten.“4 Zweitens, das Bedürfnis, im Angesicht der rasenden Entgrenzung, alles unter Kontrolle zu halten, und das im Kontext einer politischen Konstruktion der Weimarer Republik, in die die heterogenen Segmente der Bevölkerung gepresst wurden, ohne von einem historisch gewachsenen politischen Bündnis, einem funktionierenden Imaginären, wie Granel die politische Totalität des Staates beschreibt, zusammengehalten zu werden. Dies sei der Grund, „warum die fehlende Einheit weit vor der Krise von 1929 den Wunsch nach sozialer Uniformität und politischer Führung aufkommen ließ, um Deutschland auf das höchste Niveau der Produktion und der modernen Technik zu hieven und es endlich auch zu einer starken Nation in der Geschichte zu machen.“5

Granel betont, dass „nur die wenigsten Konfigurationen, die die erste Explosion der Welt in den Dreißigerjahren entlang einiger ihrer Schwachstellen hervorriefen“6 auf die heutige Zeit übertragbar seien. Ein entscheidender Unterschied mag darin liegen, dass der heftige Fall der Profitraten in den Jahren um die Weltwirtschaftskrise von 1929, die Möglichkeit seiner Gegentendenzen beinhaltete: Die produktive Zerstörung durch Krisen und Krieg, die Integration des Globalen Südens in imperialistischer wie dekolonialer Form in den Weltmarkt, die Proletarisierung seiner Bevölkerung, die Mobilisierung der Frauen in die Produktion über die bürgerliche Gleichberechtigung, die Produktivitätsschübe durch wissenschaftlich-technologische Innovationen wie durch eine Intensivierung der Auspressung der Arbeitskraft.

Als der ökonomische Aufschwung sich erschöpfte, wurde die einsetzende Profitkrise der 1970er Jahre durch den Neoliberalismus überwunden, in dessen FolgedieBedeutung der industriellen Produktion abnahm. Finanzialisierung und Logistik-Revolutionführten stattdessen zur Dominanz des Zirkulationssektors als hegemoniale Sphären der Kapitalakkumulation, wie Joshua Clover schreibt.7 Mit der Auflösung des politisch-ökonomischen Klassenkompromisses des Fordismus, zerschlug der Neoliberalismus zugleich die Massenorganisationen, die Idee einer gesellschaftlichen Planung in allen Feldern von der Architektur, Stadtplanung, dem Umgang mit Medien, Gesundheitspolitik und Sozialhygiene bis zur familiären Haushaltsführung. Dies war auch das Terrain des historischen Faschismus und es kann nicht einfach wiederaufgebaut werden.

Rasender Stillstand

Heute zeigt sich immer deutlicher, dass sich auch der neoliberale Innovationszyklus erschöpft hat und seine Krisen nur noch zum Preis von immer größeren Blasen und staatlichen Rettungsprogrammen aufgeschoben werden. Das Bedürfnis des Kapitals nach rasender Entgrenzung trifft auf eine tiefe Stagnation der Wirtschaft und tendenziell sinkende Profitraten. „Trugwahrnehmungen, die den Eindruck hinterlassen, das Leben bewege sich noch schnell, rühren daher, dass an die Stelle der Beschleunigung Verkürzungen der Produktionszyklen getreten sind. Investitionen müssen sich kurzfristiger rechnen, und die Ökonomie bewegt sich nervöser in kleineren Kreisen“8, schreibt Hans-Christian Dany. Der Hype um Begriffe wie „Second Machine Age“ oder „Industrie 4.0“ kreiert ein revolutionäres Image neuer Geräte und Technologien, die tatsächlich, wie Jason E. Smith darstellt, so gut wie keine Produktivitätsschübe in der Arbeit bringen und in der Produktion vornehmlich als Überwachungstechniken eingesetzt werden.9 Die fortexistierende Surplus-Bevölkerung, die keinen Zugang zu sicheren Jobs findet und der wachsende Anteil in ihr, der selbst in den kurzen Boom-Phasen nicht mehr vom Kapital in produktive Arbeitsverhältnisse mobilisiert wird, sind ein weiteres Anzeichen dafür, dass die totale Mobilisierung des Kapitals in einer Krise ist, wie Endnotes in einem bisher noch unveröffentlichten Beitrag für den Non-Kongress in Berlin schreiben.10 „Stagnation is a state of non-movement.“ Aber das Kapital kann diesen Zustand nicht dauerhaft zulassen, es ist nichts, wenn es nicht in Bewegung ist, es muss beständig expandieren, über seine Grenzen hinauswachsen, neue, noch nicht warenförmige Bereiche erschließen.

In einer Welt, in der die geographischen kapitalistisch unerschlossenen Territorien schrumpfen, werden unsere Körper selbst zu einem Terrain kapitalistischer Landnahme. Das was heute kolonialisiert wird, sind unsere Seele, unsere Emotionen, Begehren und Wünsche, die Beziehungen und Interaktionen zwischen uns, die in Form von Daten vermessen, standardisiert und am Markt gehandelt werden. Diese Mobilisierung bezieht sich nicht mehr primär auf Lohnarbeiter und Waren an den Orten ihrer Produktion, sondern sie weitet die totale Produktion auf die gesamte Gesellschaft dadurch aus, dass sie die Interaktion zwischen den Menschen in Warenform bringt. Die Wissenschaft von der Beziehung zwischen organischen Lebewesen untereinander und ihrer Außenwelt ist die Ökologie. Deswegen haben wir an anderer Stelle den Zusammenhang zwischen der biopolitischen Landnahme und dem grünen Extraktivismus, der Ökologisierung der Gesellschaft, die mit der fortwährenden Zerstörung der Welt einhergeht, unter dem Begriff eines ökologischen Akkumulationsregimes untersucht.11 Ob sich ein solches Akkumulationsregime im Sinn eines vorübergehenden Aufbruchs der Stagnation und eines Aufschwungs durchsetzt, wissen wir nicht. Entscheidend für unsere Zeit ist der Versuch, es durchzusetzen, in der Möglichkeit das Wesen zu erkennen, um auf Granel zurückzukommen. Mit ihm könnten wir das wachsende Bewusstsein für die Grenzen der Natur und damit des Wachstums seit den 1970er Jahren als einen „Schub der Endlichkeit“i verstehen und darin zugleich seine Beziehung zum in der gleichen Zeit entstehenden Business der grünen Technologien. Denn ein auf totale und unendliche Mobilisierung basierender Kapitalismus, kann weder Grenzen noch Stillstand oder gar Rückschritt akzeptieren. Deshalb ist die Antwort auf den Einbruch der Endlichkeit auch nicht Degrowth, sondern die Täuschung, es würde eine Unendlichkeit bestehen. Deshalb wird daran geforscht, wie CO2 in den Boden, die Meere und die Stratosphäre geschossen werden kann. Deshalb wird nicht weniger Müll produziert, sondern es werden immer neue Orte seiner Lagerung erschlossen. Deshalb wird immer tiefer in den Minen der seltenen Erdmetalle gebohrt, je mehr sie als Instrument der Nachhaltigkeit beschworen werden. Deshalb nimmt die Zerstörung der Welt immer mehr zu, wie ihr ökologischer Schutz zum Leitprogramm der Gesellschaft wird. Es ist kein Zufall, dass parallel zu dieser Entgrenzung das Kontrollbedürfnis wächst und die Logik der Vorhersehbarkeit der Zukunft sich in immer mehr Bereichen ausbreitet, etwa in der prädiktiven Polizei- und Justizarbeit oder der Überwachung des öffentlichen Raums.12

Das bedeutet zusammengedacht, dass wir extreme Rechte mit einem Zukunftsprojekt eher unter einigen Transhumanisten im Silicon Valley oder grünen Malthusianern entdecken können, als in den Parlamentsfraktionen der europäischen Faschisten. Es bedeutet aber noch mehr, dass die Möglichkeit einer monströsen Verbindung der totalen Bedürfnisse nach einer modernisierenden Entgrenzung und zugleich einer autoritären Kontrolle dieser Bewegung, in der Ökologisierung und ihrem biologischen und technologischen Zugriff zu finden ist.13 Wir können uns dieser spezifischen Konfiguration auch über ein anderes Feld nähern. Endnotes verweist uns nämlich auf eine bestimmte Möglichkeit, wie das Kapital reagiert, wenn sich die Dynamik der Ökonomie verlangsamt. Es tendiert dazu die Mobilisierung zu beschleunigen, bis zum Punkt von Krieg und Zerstörung.

…wie die Wolke den Regen“?

Erinnern wir uns daran, dass Mussolinis Weg vom Sozialismus zum Faschismus mit seiner Forderung nach Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg begann. Die Verarbeitung der Kriegserfahrung spielte eine wichtige Rolle für die Entstehung der faschistischen Massenbasis, sei es in der Form der Frontsoldaten in den späteren deutschen Freikorps und italienischen Arditi (wobei es in Form der „Arditi del popolo“ freilich auch eine antifaschistische Ausprägung gab), sei es in Form der jüngeren Jahrgänge, die den aktiven Kriegseinsatz knapp verpasst hatten, und gerade daraus einen fanatischen nachholenden Militarismus entwickelten. Kriegsverherrlichung, Todessehnsucht und ein soldatischer Männlichkeitskult spielten auf individueller wie auf kollektiver Ebene eine durchgehend entscheidende Rolle im Faschismus. Im Futuristischen Manifest, das zur ideologischen Inspiration der italienischen Faschisten wurde, heißt es: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – die einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörerische Tat der Anarchisten, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Aber der Krieg verblieb nicht auf der Ebene von Ideologie und Propaganda. Er bekam eine sehr realpolitische Dimension, die die geopolitische Beherrschung des Territoriums mit der demographisch-völkischen Idee der Eroberung von Lebensraum bzw. spazio vitale verband. In Italien ging es um ein neues römisch-italienisches Imperium im Mittelmeer, was 1935 zum Angriff auf Abessinien führte, historisch im Übergang zwischen nachholendem Kolonialkrieg und Prototyp des totalen Kriegs. In Deutschland beinhaltete die Eroberung des völkischen Siedlungsraums im Osten das Ziel der genozidalen Versklavung der slawischen Bevölkerung und der völligen Vernichtung der jüdischen. Zugleich stand der Faschismus in Deutschland und Italien in einer klar definierten historischen imperialen Rivalität zu Großbritannien und Frankreich.

Der Unterschied zur Gegenwart sticht ins Auge. Sicherlich spielen ein soldatischer Männlichkeitskult und die Idee der Armee als Schule der Nation noch eine Rolle. Die wechselseitige Anziehungskraft von Faschismus und Militär zeigt sich weiterhin und die daraus entstehende Bewaffnung der extremen Rechten und ihre Präsenz in Armeekreisen ist beunruhigend. Und der gemeine Salonfaschist vor dem Fernseher wünscht sich zumindest den Einsatz der Armee an den Außengrenzen, um die Flüchtlinge abzuhalten. Aber für die Aufrüstung und brutale Verteidigung der Festung Europa brauchte es keine Faschisten. Und die modernen Projekte einer imperialen Expansion finden sich ideologisch wie realpolitisch im bürgerlichen Lager, insbesondere im grün-liberalen. Die offensivsten Überlegungen zur Entsendung regulärer Armeeeinheiten in die Ukraine, die immer weitergehenden Forderungen nach Aufrüstung und sogar das Kokettieren mit direkten Militärschlägen kommen alle aus dieser Richtung, die seit Jahrzehnten geübt ist im Imperialismus, von der Afrikapolitik Frankreichs bis zur deutschen Dominanz über Südosteuropa. Der immer wahrscheinlicher kommende Krieg um Taiwan wird nicht um die Kontrolle von Territorien und Bevölkerung, nicht im Namen einer völkischen Expansion geführt werden, sondern im Namen einer digital kontrollierten Ökologisierung, um die Kontrolle der Rohstoffe und Halbleiterproduktion, die dafür benötigt werden.

Dem europäischen Faschismus hingegen fehlt ein imperiales Projekt. Er befindet sich in einer historischen Defensive, weit ab von dem jugendlichen, brutalen Utopismus. Die Neuauflage der Vergangenheit als Vision des historischen Faschismus ist Geschichte. Der Futurismus kann den heutigen Faschismus nicht mehr ideologisch beeinflussen, denn letzterem ist die Zukunft abhanden gekommen. „Hundert Jahre später ist die Expansion vorbei, an die Stelle des Eroberungsdrangs ist die Angst vor der Invasion fremder Einwanderer getreten“14, wie der italienische autonome Marxist Bifo Berardi schreibt. „Was auf dem Vormarsch ist, ist der Geronto-Faschismus: der Faschismus des senilen Alters, der Faschismus als wütende Reaktion auf die Alterung der ‘weißen Rasse’.“

Den realen Kriegsprojekten der bürgerlichen Regierungen stehen die Parteien der extremen Rechten widersprüchlich bis pragmatisch gegenüber. Sicher, es gibt die Kritik an einer „Fremdbestimmung“ der nationalen Außenpolitik, die Forderung die Gelder doch besser für das „eigene Volk“ einzusetzen, die kaum verhohlene Sympathie für den machistischen Nationalismus Putins usw., aber im Zweifel können diese Positionen auch radikal geändert werden, wenn es den Zugang zur Macht erleichtert. Was Meloni in Italien mit ihrer Unterstützung für den Ukraine-Krieg vormachte, holt Bardella in Frankreich nach. So kann natürlich auch eine Kriegsbeteiligung des Geronto-Faschismus nicht ausgeschlossen werden. Aber er ist eben nicht die treibende Kraft auf dem Weg dorthin.

Genießen ohne Grenzen

Wenn die Möglichkeit, für die Modernisierung des Kapitalismus eine ähnliche Funktion zu übernehmen, wie sie der historische Faschismus im 20. Jahrhundert erfüllte, heute am ehesten durch die digitale und ökologische Mobilisierung repräsentiert wird, dann liegt in der Polemik vom grünen oder liberalen Faschismus ein wahrer Kern.15 Die Frage, ob die Analogie zum Faschismus analytisch hilfreich ist, ist eine andere. Die Art und Weise wie Herrschaft durchgesetzt und Hegemonie organisiert werden, unterscheidet sich jedenfalls deutlich. Social Media werden zwar erfolgreich von faschistischen Milieus benutzt, funktionieren aber völlig anders als die zentralisierte Rundfunk- und Zeitungspropaganda des 20. Jahrhunderts. Alle klassischen Massenorganisationen im politischen wie vorpolitischen Raum verlieren massiv an Mitgliedern und Bedeutung, sie spielen auch für den heutigen Faschismus eine wesentlich geringere Rolle (Indien mit dem RSS ist eine bedeutende Ausnahme).

Die Rebellion um 1968 hat eine Infragestellung von traditionellen Werten, repressiven Normen, konservativen Strukturen und gesellschaftlichen Autoritäten auf den Weg gebracht. Mit der Zeit wurden diese Versuche der Befreiung aber gewendet und im Neoliberalismus zur Grundlage einer Modernisierung von Herrschaft, die vom Subjekt verinnerlicht wird, nicht mehr als externe Autorität wahrgenommen wird und auf Techniken der ständigen Selbstoptimierung beruht. Ausgehend von der Psychoanalyse nach Lacan könnte man vom Tod des Vaters sprechen. Mit der väterlichen Autorität schwindet eine symbolische Ordnung, die das Genießen durch ein Verbot reguliert hatte und gegen die sich historisch antiautoritärer Protest von links formierte.

Genau diese Ordnung des Verbotes und Gesetzes aber ist mittlerweile so gut wie vollständig ausgehöhlt, sie existiert nicht mehr. Sie wurde ersetzt durch einen neoliberal geformten Imperativ des Genießens unddurch den „Diskurs der Universität“, also einer hegemonialen Herrschaft durch Experten, Technokraten und Wissenschaft. Der Linken fällt eine Konfrontation dieser Herrschaft wesentlich schwerer, zumal letztere sich ja modernisiert hat, indem sie linke Emanzipation integriert und umgekehrt hat. Stattdessen reproduziert sie bestimmte Einschränkungen des Genießens in einer wechselseitigen Beziehung mit dem herrschenden Expertendiskurs, den sie beispielsweise auf der Ebene der Sprachpolitik weiterhin beeinflusst und modernisiert. Im Klimadiskurs oder beim Umgang mit den Pandemie-Maßnahmen wird dies besonders deutlich.

Die Rechte hingegen, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Identifikation mit der (staatlichen) Autorität immer schwer tat mit Straßenprotest und Rebellion, ist heute so erfolgreich, weil sie den Protest gegen die Experten und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Verbote inszeniert. Niemand soll mir mein Schnitzel, mein Dieselauto, meine Sprache oder meine Playlist reglementieren. Das widersprüchliche Verhältnis, das Genießen gegen seine Einschränkungen ermöglichen und das Bedürfnis es zugleich kontrollieren zu wollen, erklärt, wieso Figuren wie Berlusconi oder Trump von ihren konservativ-religiösen Wählermilieus gefeiert werden, obwohl sie ganz offensichtlich gegen jede Vorstellung einer Bindung von Sexualität an Ehe und Familie verstoßen.

Es ist genau zu analysieren, welche Form autoritäre Herrschaft jeweils annimmt, worauf die Zustimmung zu autoritären Führerfiguren – wie z.B. auch Bolsonaro – beruhen, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse sie aufnehmen. Adolf Hitler z.B. war die Inkarnation der klassischen autoritären Führerfigur des strengen, asketischen, strafenden Vaters, der die Massen wie ein guter Hirt (ein altes christliches Motiv) leitete und führte. Die heutigen Machtformen von Selbstführung, Selbstsorge oder eben der „Diskurs der Universität“ konstituieren neue Formen autoritärer Führerschaft. Oft ist ihnen die Figur eines selbstbezüglichen Individualismus inkarniert, der offen Begehren und Genießen propagiert, bei dem die Führerfiguren ihre machistischen Grundcharaktere, sexuelle Potenz (bei gleichzeitiger Homophobie) und ökonomischen Erfolg offen zeigen und zum „Beweis“ ihrer Erwählung machen.

Protest und Gehorsam lassen sich so im rechten Lager gleichzeitig genießen, wo sie im traditionellen Gegensatz konservativer und emanzipatorischer Politik noch auseinanderfielen. Deshalb geht mit dem rechten Protest auch die Forderung nach Gehorsam und Unterwerfung einher, z.B. in Form restriktiver Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch oder Verbote homosexueller Ehen. Auch diese Verbote werden aber als Befreiung propagiert: von dem staatlich legitimierten „Mord an Ungeborenen“ z.B. oder von der Sichtbarkeit von Homosexualität in der Öffentlichkeit. Diese Form rechter Politik ist also nicht einfach erfolgreich, weil sie eine bessere Erklärung der Situation der Welt bereitstellt, sondern eine Form des Genießens, die die Linke im Moment kaum zu bieten hat.

Ein postideologischer Totalitarismus

Kapitalismus funktioniert heute nicht mehr durch eine legitimierende Ideologie, wie sie früher Religion, Nationalismus oder Liberalismus darstellten. Dies bedeutet freilich nicht, dass es weniger autoritär zugehen muss. Vielmehr begründen die an ihre Stelle getretenen Sachzwänge, gerade weil sie nicht mehr ideologisch begründet werden und damit politisch diskutierbar sind, eine alternativlose Form der Herrschaft als rationale Verwaltung. Was im Widerspruch zu einer alternativlosen Realität gerät, muss deswegen umso vehementer als absolut irrational und schädlich für die gesamte Gesellschaft dargestellt werden, die dadurch umso totaler wird. Der italienische Psychoanalytiker Massimo Recalcati nennt dies postideologischen Totalitarismus. Die Freund-Feind-Konstellationen sind hier durchaus flexibel veränderbar, zugleich umfassen sie tendenziell immer auch diejenigen, die aus Sicht des Kapitals nicht verwertbar, und damit eine Gefahr ohne Nutzen darstellen, das (rassifizierte) Surplus-Proletariat.

Der Faschismus ist nicht das ganz Andere dieser totalisierenden kapitalistischen Demokratie, heute weniger denn je. Ihm fällt nicht viel mehr ein, als die Projekte des Neoliberalismus quantitativ auszubauen. Die mörderische Abwehr der Migration an den Grenzen, die staatsbürgerliche Entrechtung und forcierte Abschiebung, der Angriff auf Gewerkschaften und Streikrecht, die sozialchauvinistische Demütigung der Armen und der Surplus-Bevölkerung, der Ausbau des Polizeistaates mit immer mehr Toten durch Bullengewalt. Wer könnte erraten, wen wir jeweils meinen? Renzi oder Meloni? Macron oder Bardella? Trump oder Obama? Die Zukunft oder die Gegenwart?

Dies gilt auch für die Warnung, der Faschismus an der Macht könnte die Verfassung umbauen, die ihn hemmenden Gesetze und Menschenrechte abschaffen, seine Herrschaft verewigen. Unterdessen war es Renzi, der in Italien ein autoritäres Verfassungsreferendum vorangetrieben hat; Macron, der mit immer mehr Präsidialverordnungen gegen alle sozialen Widerstände durchregiert hat.

Ernst Fraenkel, ein jüdischstämmiger Jurist und Politikwissenschaftler, näherte sich der Transformation des Ausnahmezustands im Nationalsozialismus mit dem Begriff des „Doppelstaats“. Er analysierte einen Maßnahmenstaat, in dem sämtliche Rechtskategorien zur Disposition standen, sobald sie der Politik des NS im Weg standen, wobei dieses Politische seinerseits nicht juristisch festgeschrieben, sondern immer wieder neu willkürlich bestimmt werden konnte. Gleichzeitig existierte weiterhin in anderen Bereichen, allen voran, aber nicht ausschließlich, der Wirtschaft, weiterhin ein Normenstaat, in dem Gesetze, juristische Urteile und Verwaltungsakte Gültigkeit behielten. Zwar griffen die Strukturen des Maßnahmenstaates immer wieder in andere Bereiche ein, sie hoben den Normenstaat aber nie völlig auf, weil dies auch nicht funktional für den NS gewesen wäre. Fraenkel sieht den Ausnahmezustand also weder auf einen abgrenzbaren Bereich der Gesellschaft noch auf eine bestimmte historische Abfolge beschränkt.

Dem Historiker Michael Wildt erschien 2007 Fraenkels Konzept des Doppelstaats auch im 21. Jahrhundert noch als „überraschend aktuell. Denn was ist Guantánamo anderes als der Versuch, außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung einen rechtsfreien Sektor zu schaffen, in dem ‚allein die Maßnahmen herrschen‘?“16 Seine Ansicht, der heutige Staat sei „jedoch in der Lage, die Sektoren des Maßnahmenstaats nach und nach wieder der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen“, mag angesichts der Ausweitung der Anti-Terror-Gesetzgebung, der Suspendierung der Asyl- und Menschenrechte durch den Ausbau der Lager oder der temporären Aussetzung von Grundrechten während der Corona-Pandemie hingegen zu optimistisch erscheinen.17 Vielmehr könnte die Doppelstaatstheorie einen anderen Zugang zu einem zentralen Satz im Werk von Walter Benjamin ermöglichen: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“18

Communis hostis omnium

In welcher Beziehung steht der Faschismus also zur bürgerlichen Gesellschaft, wenn nicht als ihr anderes? Historisch war der Faschismus eine putschistische Konterrevolution gegen die Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft durch die revolutionäre Arbeiterbewegung. Er wurde deshalb von Eliten aus Kapital und teils Monarchie unterstützt, weil er die bürgerliche Herrschaft in einer anderen, reaktionären, terroristischen, aber immer noch kapitalistischen Form verteidigte. Heute ist von einer revolutionären Linken weit und breit nichts zu sehen. Wenn es überhaupt eine Erschütterung der Macht gibt, dann geht sie von den Non-Bewegungen aus, den spontanen, intensiven und kurzlebigen Aufständen, „subjektive Ausdrücke der objektiven Unordnung unserer Zeit.“19 In den Corona-Riots Anfang 2021 in den Niederlanden20 und während der Nahel-Riots21 tauchten die Faschisten unter dem Augen der Bullen auf, um gewaltsam gegen die Rebellierenden vorzugehen und „die Ordnung wiederherzustellen“. In genau dieser Funktion sollten wir die Faschisten hassen und bekämpfen, als Partei der Ordnung, nicht als ihre Gefährdung.

Mikkel Bolt Rasmussen beschreibt den heutigen Faschismus in Bezug auf die Non-Bewegungen als einen Protest gegen den Protest. Inspiriert von George Jackson sieht er Faschismus als eine präventive Beseitigung der Möglichkeit einer radikaleren Opposition gegen die neoliberale Globalisierung und den Zusammenhang von Kapitalismus und Nationalstaat.22 Dies gilt, ob er außerhalb der Non-Bewegungen agiert oder versucht, sich in ihnen auszubreiten. Aber gilt es nicht ebenso für den heutigen hegemonialen Antifaschismus? Nicht wenige Non-Bewegungen wurden im Namen des Antifaschismus von der Linken als rechtsoffen oder Querfront denunziert, die Gelbwesten ebenso wie die Mobilisierungen gegen Lockdowns und Gesundheitspässe.23 In regelmäßiger wie internationaler Wiederholung wird der Antifaschismus bemüht, um zur Wahl der linken Koalitionen aufzurufen, als Antwort auf das Erstarken der faschistischen Parteien. Aber je breiter die Volksfront wird, die den Faschismus verhindern soll, desto stärker wird die Linke mit der Macht identifiziert, desto weniger wird sie als eine mögliche Alternative gesehen. Und die reale Politik dieser Koalitionen tragen ihr Übriges dazu bei, dass der Anteil der Nichtwählenden ebenso erhöht wird, wie der prozentuale Stimmenanteil der Rechten. Sodass das Bündnis bei der nächsten Wahl eben noch breiter, noch totaler werden muss. Die neueste Farce dieser Geschichte ist der Nouveau Front Populaire in Frankreich und der Umstand, dass er sogar von antifaschistischen Linksradikalen unterstützt wird, zeigt nur, wie sehr dieses Milieu am Ende ist.

Diesen Antifaschismus müssen wir verlassen, weil er sich untrennbar verbunden hat mit der kapitalistischen Demokratie, die den Faschismus als Zombie am Leben erhält. Die einzige mögliche Art das ursprüngliche Versprechen des Antifaschismus umzusetzen, ist es, diese Verbindung zu zerschlagen. Das ist keine neue Erkenntnis. Der italienische Kommunist Amadeo Bordiga hat bereits in den 1920er Jahren davor gewarnt, dass die Volksfrontpolitik den Faschismus nicht aufhalten kann, stattdessen aber den revolutionären Klassenkampf unterminieren wird, der die einzige Antwort sowohl auf die kapitalistische Demokratie wie den Faschismus sein könne. So inspirierend Bordigas Kritik am Antifaschismus seiner Zeit ist, so war sie gleichzeitig gebunden an die absolute Unterordnung unter den von der Kommunistischen Partei organisierten Klassenkampf. Doch durch das Verschwinden der Arbeiterbewegung als historisch revolutionären Subjekt verlieren auch die an dieses Subjekt gebunden Klassenkämpfe ihren revolutionären Charakter.

Das, was von der Linken überhaupt noch übrig und nicht vollständig integriert ist, klammert sich an die alten Konzepte der Arbeiterbewegung, der politischen Massenorganisationen, der Streiks, der sozialistischen Realpolitik. Sie appelliert an eine Arbeiterklasse, die atomisiert wurde, an Milieus, die zerschlagen wurden, an einen Staat, der seine Rolle als sozialpolitischer Vermittler oder liberale Rechtsinstanz aufgegeben hat. Es ist ein Geronto-Sozialismus, der einen Geronto-Antifaschismus der Volksfrontpolitik produziert. Die Propagierung eines revolutionär-antikapitalistischen Antifaschismus, die Mobilisierung einer hoffnungsvollen Zukunft, erscheint uns als andere Seite dieser Medaille, solange nicht die historischen Bedingungen dieser Politik analysiert werden. Sie wirkt umso phrasenhafter, je weniger sie einen Begriff von Transzendenz hat, eine Vorstellung von einer ganz anderen Welt. Sie erscheint umso lächerlicher, je isolierter sie wird, und umso realitätsferner, je weniger sie bereit ist, diese Isolation zum Ausgangspunkt der Reflektion zu machen, anstatt sie zwanghaft durch Aktivismus und Bündnispolitik zu überdecken.

Dies wirft uns wieder zurück auf die Non-Bewegungen. Nicht, weil wir sie zum neuen revolutionären Subjekt erklären wollen, was genau die falsche Schlussfolgerung wäre. Sie verweisen ja gerade auf die Ablehnung einer Reproduktion von Politik, Identitäten und Demokratie, auf den Verzicht auf jede Repräsentation. Ihre Begrenzungen, Niederlagen, die Möglichkeit ihres Rückfalls in Integration oder Regression sind uns bewusst. Aber was wir in ihnen aufscheinen sehen, ist eine tiefgehende Wut auf die Verhältnisse, ein Bruch mit dem Konsens, eine Verweigerung der Integration, ein Begehren nach Leben jenseits seiner Verwaltung und Reduzierung auf das bloße Überleben. Wo sie nicht vereinnahmt werden konnten, wurden sie von allen Seiten zu Feinden erklärt, von den Linken und Rechten, dem Staat und der Zivilgesellschaft. Sie haben diese Feindschaft nicht immer gesucht, aber sie mussten sie annehmen, um weiterkämpfen zu können. Und gerade deswegen waren sie alles andere, als alleine. In der Art wie sie angegriffen haben, wie sie sich der totalen Mobilisierung von Staat und Kapital entzogen haben, wie sie ihre Reproduktion, ihr Leben, ihr Zusammenkommen organisiert haben, für eine noch so kurze Zeit, sehen wir ein Aufblitzen der Möglichkeit eines Bruchs mit den Verhältnissen, einer absoluten Negation des Bestehenden. Das ist weit weg von einer neuen revolutionären Strategie. Aber es ist, inmitten eines postideologischen Totalitarismus, auch nicht gerade wenig.

Es ist der Hass auf die Gegenwart, der die Zukunft offenhält.

1Granel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 233f.

2Granel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 256.

3Granel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 249f.

4Granel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 253.

5Granel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 253.

6Granel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 238.

7Clover, Joshua: Riot. Strike. Riot. Die neue Ära der Aufstände, Hamburg 2021.

8Dany, Hans-Christian: Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft, Hamburg 2015, S. 17.

9Smith, Jason E.: Smart Machines and Service Work. Automation in an Age of Stagnation, London 2020.

10https://nonkongress.noblogs.org/

11Aus der brennenden Hütte: Zeit der Ökologie. Das neue Akkumulationsregime, Januar 2024. Online unter: https://inferno.noblogs.org/post/2024/01/11/zeit-der-oekologie/

iGranel, Gérard: Die Dreißigerjahre liegen vor uns, in: Granel, Gérard: Die totale Produktion. Technik, Kapital und die Logik der Unendlichkeit, Wien 2020, S. 257.

12Zu diesen Phänomenen und ihrer Verbindung zu Digitalisierung und Ökologie siehe: Colletivo Sumud: Ein Organ das alles Kontrolliert – Eine Kontrolle die alles organisiert, deutsche Übersetzung online unter: https://inferno.noblogs.org/post/2024/05/26/ein-organ-das-alles-kontrolliert-eine-kontrolle-die-alles-organisiert/

13Erhellende Analysen zu diesem Zusammenhang sind in zwei Artikeln von Mohand zu finden; Mohand: So much for Ecology, so much for Humanity, online unter: https://illwill.com/so-much-for-ecology; Mohand: Bifurcation in the Civilization of Capitol, online unter: https://illwill.com/bifurcation

14Berardi, Franco “Bifo”: Geronto-Faschismus. Das Alzheimer der Geschichte 1922-2022, online unter: https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/10/17/geronto-faschismus/

15Rafanell i Orra, Josep: Against liberal fascism, online unter: https://illwill.com/against-liberal-fascism

16Wildt, Michael: Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 1.6.2011, online unter: http://docupedia.de/zg/Fraenkel.2C_Der_Doppelstaat. (Wiederveröffentlichung von: Wildt, Michael: Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Danyel, Jürgen/Kirsch, Jan-Holger /Sabrow, Martin (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 19-23.)

17Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Politik des Ausnahmezustands im Ökologischen Akkumulationsregime ist im zweiten Kapitel hier zu finden: Aus der brennenden Hütte: Zeit der Ökologie. Das neue Akkumulationsregime, Januar 2024. Online unter: https://inferno.noblogs.org/post/2024/01/11/zeit-der-oekologie/

18Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Band I.2, Frankfurt am Main 1991, S. 697.

19Endnotes: Vorwärts Barbaren, Dezember 2020, deutsche Übersetzung in Sunzi Bingfa vom 11. Januar 2021, online unter: https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/01/11/vorwaerts-barbaren/

20Riot Turtle: Corona-Riots in den Niederlanden: „Die Regierung hat den Familien Millionen gestohlen, hat Familien zerstört”, in: Sunzi Bingfa vom 28. Januar 2021, online unter: https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/01/28/corona-riots-in-den-niederlanden-die-regierung-hat-den-familien-millionen-gestohlen-hat-familien-zerstoert/

21Pour Nahel. Anthologie der Aufstände, deutsche Übersetzung vom November 2023, online unter: https://nahelanthologie.blackblogs.org/

22Bolt Rasmussen, Mikkel: Fascist Spectacle, Oktober 2021, online unter: https://illwill.com/fascist-spectacle#fn2

23Michele Garau hat wichtige strategische Überlegungen zu den Non-Bewegungen und ihrem Verhältnis zur Linken im Kontext der Modernisierung des Kapitalismus aufgeschrieben: Garau, Michele: The Strategy of Separation, online unter: https://illwill.com/separation. Eine deutsche Übersetzung seines Artikels erscheint demnächst auf inferno.noblogs.org