Spätaufklärerische Dekadenz


Spätaufklärerische Dekadenz

Soziale Medien. Musk, Weidel, die Faktenficker

Die Faktenchecker sind wohl eine der nervtötendsten Ausgeburten des liberalen Diskurses. Bar jeder ideologietheoretischen Selbstkritik schwingt sich das Medienprekariat bei jedem gesellschaftlichen Thema auf, die „eigentliche“ Wahrheit hinter Meinungen, Einschätzungen und politischen Einstellungen „aufzudecken“. Da gehts natürlich in erster Linie um den Kampf gegen rechte, verschwörungstheoretische und querdenkerische Einsichten, genauso aber um Kriegs- und Friedens oder Terrorismusfragen. In den Medien kommen dann regelmäßig sogenannte „Experten“ zu Wort, die „Lügen entlarven“ und die „Wahrheit aufdecken“. Solche Experten kommen häufig aus Instituten und NGOs zweifelhafter Herkunft, bzw. ihre Herkunft wird oft genug nicht öffentlich gemacht. D.h. die Faktencheckerei traut sich selbst wohl nicht über den Weg. In der gegenwärtigen Debatte über Migration warnen „Rechtsexperten“ z.B.: „Statt evidenzbasierter Erkenntnisse dominieren derzeit emotionale Reaktionen und politische Reflexe”1. Wahrheit verkommt zu evidenzbasierter Erkenntnis: als ob die Universalität der Menschenrechte auf Evidenz basiert.

Erstaunlicherweise steht diese Faktencheckerei und Evidenzgeilheit im Widerspruch zum allgemeinen Credo vieler Progressiver und Liberaler, dass die Politik der Neuen Rechten so erfolgreich ist, weil sie auf Affekten und Emotionen aufbaut, die sie geschickt zu nutzen wissen, um politisch und ideologisch daraus Kapital zu schlagen. Die Referenz auf Fakten und Evidenzen, also vermeintlicher Argumente ist also im Blick auf die Erkenntnis, dass die Linke aufgrund von Logik, Rationalität und dem besseren Argument nicht in der Lage ist, die Emotionen und Affekte der Menschen anzusprechen, geschweige denn zu verstehen, schon im Ansatz untauglich. Deshalb folgern einige daraus: „Von den Rechten lernen, bedeutet siegen lernen“ und übernehmen klammheimlich Chantal Mouffes Konzept des Linkspopulismus (obwohl viele verneinen würden, dass sie populistisch sind), um Emotion und Argument wieder zueinander zu bringen oder präziser, die Emotion einem anderen, eben linken Argument dienlich zu machen. Aus der latenten Unzufriedenheit, die sich rassistisch artikuliert, soll so ein Aufbegehren gegen ‚die da Oben‘, ‚die Kapitalisten‘ o.Ä. werden. Dass dies den Progressiven nicht so recht gelingt, mag daran liegen, dass sie eben nicht wie viele Menschen fühlen, weil sie letztendlich noch von Zivilisation, Moderne, Technik, deliberativer Demokratie und Gedöns überzeugt sind – anders eben als ein Großteil der Bevölkerung (realpolitische Beispiele wären wohl die Politik während des Covid-Ausnahmezustands, der Ukrainekrieg oder der versuchte Völkermord in Palästina). Progressive und Linke werden mit Empirie, Logik und Rationalität identifiziert, nicht aber mit Wahrheit.

Dass die Progressiven sich der Krise ihrer Kategorien nicht bewusst sind, führt dazu, dass ihr Gerede hölzern und hohl wird, zu reinem ideologischen Gewäsch, das diese Welt aufrechterhält, die sich ökonomisch, politisch, erkenntnistheoretisch längst selbst kannibalisiert und dabei wie ein verwesender Körper aufbläht, zombiehaft weiter lebt. Und davon profitieren die Rechten, weil viele Menschen bewusst oder unbewusst ein Gefühl genau davon haben. Wer jetzt ein „aber die Rechten…“ erwartet, kann hier abbrechen und sich moralisch erbaulicheren Dingen wie der antifaschistischen Volksfrontpolitik oder, wie es heute klassenkämpferisch heißt, der antifaschistischen Wirtschaftspolitik widmen und weiterhin der Sackgasse der Moderne frönen. Hier soll es nicht um die Rechten gehen, sondern um ihren progressiven Konterpart.

Faktenchecker als ideologische Staatsapparate

Was sind Fakten? Wikipedia schreibt – bereits nicht besonders faktisch – dass Fakten ein wirklicher, nachweisbarer, bestehender, wahrer oder anerkannter Sachverhalt ist. Damit ist bereits das ganze Problem der bürgerlichen Wissenschaft dargelegt. Denn sie behauptet, dass es objektive, empirisch nachweisbare Tatsachen gäbe, ohne dabei aber – und das ist der entscheidende Punkt – Rechenschaft über ihre eigenen erkenntnistheoretischen Prämissen abzulegen. Damit wird sie immer mehr zur Ideologie, um so weniger Wissenschaftler es gibt, die die erkenntnistheoretischen Prämissen transparent machen und hinterfragen. Heute befinden wir uns in einer Zeit, in der es so scheint, dass die meisten Wissenschaftler selbst kein Wissen mehr über den Ursprung ihrer Profession haben, insofern Wissenschaft heute oft nur noch Ideologie, im schlechtesten Sinne Religion ist (z.b. Covid-Pandemie und die Laborscharlatane). Dass die Ideologie nicht abstrakt ist, sondern in ihren spezifischen historischen und politischen Kontext eingeschrieben ist, sollte klar sein. Das wird insbesondere an den Faktencheckern deutlich, die mit dem bescheiden, rationalen Brustton der Überzeugung alles ‚widerlegen’, was nicht in den oder ihren herrschenden Diskurs passt (angefangen von AfD bis hin zu Linken Anti-Kriegspositionen). So kommt es beispielsweise zu Stilblüten, dass der Begriff ‚Alternative Fakten‘ von Neurechten eingeführt wurde, um ihre eigenen Lügen zu rechtfertigen und Faktenchecker diese Alternativen Fakten gegenchecken und als falsch enttarnen. Zunächst ist die Erfindung des Begriffs ‚Alternative Fakten‘ genial, weil er wahr ist. Denn selbstverständlich gibt es alternative Fakten zu anderen Fakten. Denn letztendlich ist ein ‚Fakt‘ die Auswahl eines Elements der Wirklichkeit. Der Fakt wird dadurch gestaltet, wie er, von welchem Standpunkt aus und aus welcher Perspektive er (z.b. mikro oder makro) ausgewählt wird. Das einzige Kriterium, um über Fakten zu streiten, kann nur sein, die Auswahlkriterien transparent zu machen und in den Streit um Wahrheit zu gehen. (Ein Beispiel: Ist es Fakt, dass mittellose Migranten und Flüchtlinge das Sozialsystem der BRD belasten? Selbstverständlich ja. Genauso ist es Fakt, dass dies auch Deutsche tun, denn Fakt ist auch, dass ein Sozialsystem genau dafür existiert, mittellose Menschen zu unterstützen. Wahr ist, dass aufgrund von Rassismus Deutsche und Migranten gegeneinander ausgespielt werden. Falsch ist es, Migranten und Flüchtlinge wegen des oben genannten Fakt abzuschieben. Falsch ist also eine normative Kategorie, verbunden mit der der Wahrheit, nicht mit der des Fakts).

Mit den Faktencheckern als Form und Begriff wird der Neurechte Diskurs also erstens als ebenbürtig geadelt und zweitens entlarven sich die Faktenchecker als eben nicht am Diskurs, am Austausch von Argumenten, interessiert, weil sie letztendlich die Alternativen Fakten immer als Lüge entlarven und damit als nicht diskursfähig. Dabei machen sie einen dritten Fehler, nämlich den, dass sie Politik als Streit um das Gute, Wahre und Schöne abschaffen. Denn scheinbar geht es ja nur um Fakten, also einen objektiv richtigen Standpunkt. Politische Meinungen können darin nicht mehr existieren. Politik bleibt als interessengeleitetes strategisches Handeln natürlich weiter bestehen und die Faktenchecker produzieren diese am laufenden Band mit dem Tenor der objektiven, faktenbasierten Tatsachen. In Zeiten von revolutionärer Theorie wurde das ‚Technokratie‘ genannt. Linke nennen das ganz emphatisch Demokratie, Kampf gegen Rechts oder etwas unverhohlen autoritärer: Regulierung von Öffentlichkeit.

Nun könnten die ganzen echten, wahren, wirklichen und einzigen Marxist*innen jubeln. Fühlen sie sich doch bestätigt, dass nur der marxsche Materialismus zu objektivem Wissen und damit aus der Misere herausführt. Allerdings hat ‘das Wissen’ selbst sein emanzipatorisches Potential verloren, ist es doch die zentrale Herrschaftsform unserer Zeit geworden. Lacan nannte dies den Übergang von einem Diskurs des Herrn zu einem Diskurs der Universität. Wurde das Genießen früher noch durch die Überschreitung und den Widerstand gegen das transparente und autoritäre Verbot des Herrn ermöglicht, bietet der Diskurs der Universität den Menschen heute ein unendliches Genießen an, ohne Verbote. Lediglich die Aneignung von Wissen, durch z.b. Faktenchecker, Checklisten, Beraterliteratur oder Check24, ist heute Bedingung, um richtig und schrankenlos zu genießen. Dass aber Genießen ohne Negativität nicht funktioniert, verschweigt der Diskurs der Universität geflissentlich und verdeckt seine ‘Verbote’ und seinen autoritären Charakter hinter Geboten und Angeboten, fördert letztendlich die freiwillige Knechtschaft. So wird Wissen, jenseits seiner bürgerlichen Herkunft, zu einem Problem für Befreiung an sich.

Insofern sind die Faktenficker Teil der ideologischen Staatsapparate und haben sich also mit ähnlich agierenden Akteuren zu einer eigenen Statusgruppe gemausert: die Experten. Zu ihnen gehören all die „Journalisten“, „Akademiker“, „ich habe lange hier und dort gelebt-Menschen“ und „ich bin Teil der Community, deswegen kann ich wirklich beurteilen“ – Menschen, die in derselben Logik der hochoffiziellen Faktenchecker arbeiten. Und für alle antifaschistischen Anti-Schwurbler sei hier nur erwähnt, dass es nicht selten vorkommt, dass „Journalisten“ und „Faktenficker“ nicht nur in den ideologischen Staatsapparaten, sondern sogar im Schwarzen Loch des Staates, dort wo er sich selber und sein positiv gesetztes Recht aussetzt, arbeiten, nämlich direkt für Geheimdienste oder zumindest in Drittmittelbordellen, die Zuarbeit für jene leisten.

Der durchschnittlichen Journaille wird nach dem Vorwurf, dass sie das gleiche Geschäft der Faktenchecker betreibt, noch einfallen, dass sie durchaus genau die relevanten Fragen nach Kontext, Position und Perspektive stellen. Dass sie fragen, was denn nach oder vor der aufgenommenen Szene, die man in einem Video auf Twitter sieht, wohl passiert sei und welche Person mit welchem Interesse die Szene aufgenommen hat. Der allerseits bekannte Schrei nach ‚Kontextualisierung‘ folgt allerdings auch nur dem Interesse, die Szene nach dem eigenen Interesse zu interpretieren. Versteckt wird dieses an sich legitime Anliegen hinter der Behauptung, man hätte nun selbst, und entgegen vieler Anderer, alle Fakten, den ganzen Kontext, berücksichtigt. Der eigene berechtigte politische Anspruch und der Kampf um die Bilder wird hinter Faktenfickerei versteckt: Auch hier wieder Ideologieproduktion. Darüber hinaus kommt hinzu, dass das wahre Wesen dieses vermeintlich „bewegten Bildes“ gar nicht verstanden wird, insofern jede bis hierhin gemachten Gedanken sich erübrigen, wenn wir nicht an das wahre Wesen der vermeintlichen Bilder kommen. Denn die bewegten Bilder sind keine Bilder, sondern Technobilder. Hinter den vermeintlichen Bildern steht nämlich nicht eine reale oder Szene der Wirklichkeit, sondern Text. Text im Sinne der erkenntnistheoretischen Prämissen, die wir seit Jahrhunderten durch unser lineares Alphabet (Sinnbild für Abstraktion und Begrifflichkeit) entwickelt haben. Das vermeintliche Bild ist also Produkt von philosophischen, naturwissenschaftlichen, mathematischen Konzepten, die in die Konstruktion und Funktionsweise des Apparats (das Smartphone, die Kamera), in die Perspektive und das Denken des Operators (des filmenden Menschen) einfließen. Insofern geht jeder Schrei nach Kontext, nach mehr Fakten, um das bewegte Bild „richtig“ einzuordnen an dem wesentlichen Problem unserer Zeit vorbei: das Technobild ist den Kategorien von Objektivität, Fortschritt, Aufklärung, Logik, Geschichte längst enthoben und jeder, der es mit diesen Kategorien versucht zu fassen, bleibt in der Selbstkannibalisierung der eigenen modernen Subjektivität. Daher die Hilflosigkeit und Hysterie, mit der sich Alle die Begriffe „Lügen“, „Fakten“, „Fakenews“ etc. entgegenschleudern. Hilflosigkeit angesichts des Unverständnisses, das alles Um-sich-schlagen nicht zum gewünschten Ergebnis führt.

Hitler der Kommunist

Wer sich also über die Aussage von Alice Weidel, dass Hitler Kommunist gewesen sei, in Rage redet und die großen antifaschistischen Phrasen ‚NieWiederIstJetzt‘ und ‚Widerstand‘ herausholt, hat nichts von Information oder Kommunikation verstanden. Jegliche moralische Empörung, die sich an den Nachweis der „Lüge“ dieser Aussage anschließt, geht an der Grundproblematik vorbei: Um mal einen bekannten Aktivisten der ‚Identitären Bewegung‘ unter umgekehrten Vorzeichen zu zitieren: Dass es stattgefunden hat, ist das Problem, nicht die Äußerungen von politischen Meinungen und Falschbehauptungen. Denn politische Meinungen kann man nicht mit Fakten widerlegen und die Falschbehauptungen bzw. Lügen im Gespräch zwischen Weidel und Musk, beispielsweise, dass Hitler Kommunist gewesen sei: Ob die Behauptung, dass Hitler Kommunist gewesen sei, eine Lüge ist oder nicht schon so offensichtlich rechts-dadaistisch ist, dass eben kein Argument, egal ob im Diskurs der Fakten oder der Wahrheit, hilft, sondern nur ein ordentlicher Schubs ins Sagittarius A*, wäre eine wirklich produktive Fragestellung. Es wäre auf jeden Fall produktiver als Lichterketten zu organisieren, der Quadriga Parolen entgegenzurufen und kitschige inhaltsleere Herzchenplakate zu malen.

Wie jemand auf Twitter sinngemäß schrieb: Wenn Rechte in den Diskursraum der Öffentlichkeit kotzen, wartet die Diskursschickeria bereits jubelnd, geil und frisst die Kotze der Rechten. Danach wenden sie sich Ekel erregt und insgeheim vielleicht schamvoll ab, wissend, dass sie lustvoll bereits auf die nächste Kotzedusche warten. Unterfüttert mit den entsprechenden Videos, Reels und GIFs (aktuellstes Beispiel: Elon Musk mit seinem autistisch-nationalsozialistischen Hitler-Raketen-Gruß) hat das etwas von Pharmapornographie, einer unendlichen kybernetischen Logik von Erregung – Befriedigung/Frustration – Erregung, die niemals echtes, eben nur frustriertes Genießen ermöglicht.

Faktenchecker als Amphitheaterdiskurse

Dass Faktenchecker nicht mehr sind als ein verzweifelter aber aussichtsloser Versuch, die bürgerliche Demokratie zu retten, hat schon Vilém Flusser, ein Kommunikationswissenschaftler und Philosoph der achtziger Jahre begriffen, und seine Kritik an Öffentlichkeits- und Diskursformen nicht an der Frage von Evidenzen, von Richtig oder Falsch entwickelt, sondern an der Struktur moderner Kommunikationsformen überhaupt. Denn noch hinter der Auseinandersetzung um Fakten, Evidenzen und Argumenten versus Emotionen liegt die Problematik einer Öffentlichkeit, öffentlicher Kommunikation, von der immer noch naiv angenommen wird, dass sie ein entscheidender Ort der Aushandlung gesellschaftlicher Veränderungen, Kompromisse etc. ist. Das gilt eben für Rechte wie für Linke gleichermaßen. Anfang der achtziger Jahre sagte Gottfried Oy es mal so: Ansätze von Gegenöffentlichkeit (in der Linken) bauten auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Information und Handlung, bzw. Gegeninformation und Befreiung; es reiche aus, lediglich die „falschen“ und somit „ideologischen“ Informationen der bürgerlichen Medien durch die „richtige“ Information und Analyse zu ersetzen, um gesellschaftliche Praxis zu verändern. Das hat sich als falsch erwiesen, wie wir wissen. Öffentlichkeit ist eben nicht der Ort des Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse und Mächte, sondern Teil davon. Aber lassen wir uns von Flusser und seiner Kritik an Öffentlichkeit, Kommunikation und Diskurskritik inspirieren.

Die zu seiner Zeit hegemonialen Massenmedien wie Presse, Plakate und Fernsehen rechnet er dem sog. Amphitheatrischen Diskurs zu und auch die Faktenchecker können als Amphitheaterdiskurs bezeichnet werden. Vilém Flusser entlehnt den Begriff von der Architektur des antiken Amphitheaters, dem römischen Zirkus, in dem Sender in der Mitte eines Rundtheaters stehen und an eine potentiell beliebige und undefinierte Masse Informationen senden. Damit stellt solch ein Diskurs in Zeiten der modernen und vor allem digitalen Medien eine maximale Situation an Offenheit her, weil potentiell jeder empfangen kann. Der Amphitheaterdiskurs ist aber gleichzeitig nur auf die Erhaltung von Information ausgerichtet, weil der Empfänger strukturlos ist. Die Information wird nicht zum Zweck gesendet eine spezifische Person, ein Individuum zu erreichen, sondern die Massen. Durch diese Strukturlosigkeit wird jeder Einzelne in der Masse zum reinen Empfänger der Information, zu einer Informationskonserve, der keine ‚Verantwortung‘ für die Information übernehmen kann. ‚Keine Verantwortung‘ meint in diesem Fall, dass der Empfänger aufgrund der Struktur dieser Kommunikation nicht in der Lage ist, die Information weiterzuverarbeiten und so Revolution, Veränderung oder Prozess von vorneherein ausgeschlossen ist. Zudem müssen die Informationen wenig, einfach und uniform sein, damit sie in der offenen, strukturlosen Struktur des Amphitheaterdiskurses überhaupt gesendet und empfangen werden können.

Letztendlich bedeutet die Hegemonie dieses Diskurses in unserer heutigen Gesellschaft, dass sich durch Social-Media Entropie, also der Neigung zur überbordenden Unordnung, Geschichtslosigkeit, Uniformität und Verformung von Informationen exponentiell steigert. In der Neuen Rechten, Linken und allen anderen Milieus des Liberalismus erscheint diese Entwicklung allerdings als Zunahme allgemeiner, wenn auch vielleicht unregulierter, Partizipation bzw. digitaler Demokratie. Was aber tatsächlich passiert, ist, dass wir mit einer totalitären Entpolitisierung bei scheinbar allgemeiner Partizipation konfrontiert sind. Oder mit Flusser etwas grundsätzlicher formuliert: Die Sinnproduktion unseres westlich linearen Alphabets hat sich erschöpft, womit auch unsere Kommunikationsformen nicht mehr in der Lage sind, die Tendenz zur Entropie zu bearbeiten und wir Schritt für Schritt der Erkenntnis entgegengehen, dass wir nur natürliche Tiere sind, die dem Tod geweiht sind. Kein Wunder, dass sich ein Großteil der Menschheit in hysterischem Geschrei ergeht, von Links bis Rechts, von Oben nach Unten.

Die Faktenchecker können als Teil des Amphitheaterdiskurs begriffen werden, der ein Versuch der Progressiven ist, diesen Sinnverlust zu bearbeiten ohne zu verstehen, dass nicht die Inhalte (Irrationalität, Gegenteil von Logik, Emotion statt Fakenews, Alternativ-Realität) der Information, gegen die sie ankämpfen (auf z.b. Social Media), das Problem sind, sondern Funktion und Form des Mediums sowie der Kommunikation. Von da aus würde allerdings das Problem dann doch auf einen Inhalt schließen lassen, nämlich den eigenen verwesten aufklärerischen, modernen Inhalt der Faktenchecker. Die Faktenchecker speisen sich (sie sind diese nicht selber) aus progressiven und hoch spezialisierten Baumdiskursen (Wissenschaft & Technik) und hierarchischen, konservativen Pyramidendiskursen (z.b. politische Parteien oder NGO’s), die selbst bereits ihre historische Krisensituation überlebt haben, aber weiter tot geritten werden. Jedenfalls befinden sie sich, bedingt durch die Kommunikationsstruktur, von der sie selber Teil sind, in einer Feedbackschleife, die vordergründig dazu neigt, immer mehr und unübersichtlichere Informationen zu generieren, in Wirklichkeit sich aber selbst kannibalisiert, wie das Universum. Noch einmal: X, Instagram, Bluesky, TikTok sind in ihrer Struktur nicht als Dialoge oder fortschreitende Diskurse, in denen Argumente, Rationalität, Logik und Realität oder Wirklichkeit eine Chance hätten, angelegt. Da hilft auch der verzweifelte Versuch nicht, den Exodus auf Bluesky zu wagen. Zwar könnte man einwenden, dass hier versucht wird, einen elitären Dialog (und damit revolutionären Dialog) wieder herzustellen, allerdings verkennt das erneut das Problem von Form und Funktion. Bluesky wird auch ohne überbordende Werbung, verschiedene Arten von Pornographie und Neurechten kein Runder Tisch, kein Plenum und kein Parlament.

Faktenchecker als netzdialogische, entropische Bombe

Die Vermeidung, Eingrenzung oder Bearbeitbarkeit von Entropie fasst Flusser auch im Begriff der Netzdialoge als dem Grundnetz alle anderen menschlichen Kommunikationsformen. Dazu gehören das Gerede, das Geschwätz, die Plauderei und die Verbreitung von Gerüchten. Die entwickeltsten Formen des Netzdialogs sind heute die Sozialen-Medien, Telegram-, Signal- und Whatsapp-Chats und Kanäle. In ihnen geht es nicht um die Absicht, neue Informationen zu synthetisieren (Revolution, Veränderung, Prozess), sondern sie sind als Netzdialoge eigentlich der letzte ‚Staudamm‘, der Informationen vor der entropischen Tendenz der Natur bewahren soll, sie sind das kollektive Gedächtnis. In den sozialen Medien aber droht unser kollektives Gedächtnis durch Überlastung zu explodieren und damit jede Möglichkeit auf ‚stabile‘ Verortung und Positionierung in der Welt unmöglich zu machen: Die Standpunkt- oder Schwerelosigkeit in Raum, Zeit und Politik; anthropologischer Opportunismus in Zeiten von Fakenews und Fakten; welche Ironie.

So müsste man vielleicht von den Sozialen-Medien nicht als Amphitheaterdiskurs und Netzdialog sprechen, sondern vielmehr von einem Amphitheaternetz, einer Symbiose beider Kommunikationsformen, die sich dadurch auszeichnet, dass alle senden und gleichzeitig alle nur empfangen sollen. Ein offensichtlicher Widerspruch, der permanent zu Kollisionen führt, die Kurzschlüsse nach sich ziehen (siehe Hysterie in den Medien). Und selbst da wo Informationen ihren Weg, einen Kanal finden (was man heute Blasenbildung und Echokammern nennt), fallen sie in das alte Muster des Amphitheaterdiskurses oder Netzdialogs zurück und tragen lediglich zur Konservierung von Geschichte und zur Überfütterung des kollektiven Gedächtnisses bei, weil ihnen der progressive Dialog fehlt.

Die hegemonialen Kommunikationsformen der bürgerlichen Gesellschaft schaffen sich also selber und damit zunächst Kommunikation überhaupt ab. Das ist gut und nicht schlecht, denn darunter befindet sich immer noch die Freiheitsliebe des Menschen, die kommunizieren will, ja, nicht anders kann und eine andere Sprache, andere Formen finden wird. So bleibt also die alte Frage der Situationisten bestehen, wie eben nicht die Vermittlung von Information, sondern die Herstellung neuer Sinnzusammenhänge Kern von Kommunikation werden kann. Ob solche Kommunikation öffentlich sein muss oder überhaupt öffentlich sein kann, wird vor dem Hintergrund der Logik der Medien (Bild/ Tiktok etc.) zu unserer Herausforderung.

1https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/migration-loesungen-100.html


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